Der tiefgreifend der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und den Wahrheiten
Es gibt nur eine Wirklichkeit, die das Prinzip jeder Manifestation ist und die alle Erscheinungen (erkenntnismäßige und andere) umfasst. Sie ist nirgends begrenzt und kann daher unmöglich auf irgendeine Formel gebracht werden, d. h. sie lässt sich nicht in Worte fassen.
Dagegen gibt es eine nicht festlegbare Anzahl von einzelnen Wahrheiten, welche die von unserem geistigen Bewusstsein richtig erfassten Aspekte der Brechungen der Wirklichkeit auf der Ebene des menschlichen Intellektes sind. Jede formulierbare Wahrheit ist jeweils nur ein intellektueller Aspekt der Wirklichkeit, der andere, gleicherweise gültige Aspekte keineswegs ausschließt; denn jede formulierbare Wahrheit hat ihre Grenzen, innerhalb derer sie existiert und außerhalb derer sie zu existieren aufhört. Innerhalb ihrer Grenzen bringt eine Wahrheit die Wirklichkeit zum Ausdruck, außerhalb ihrer Grenzen gelingt ihr das jedoch nicht. So muss also jede Wahrheit als eine Zweiheit angesehen werden: einmal, soweit, sie die Wirklichkeit zum Ausdruck bringt — d. h. soweit sie gültig ist — und zum andern, soweit sie diese nicht zum Ausdruck bringt, d. h. soweit sie keine Gültigkeit besitzt.
Diese Unterscheidung wird es uns ermöglichen, den Begriff der Wahrheit mit den Begriffen des Individuellen und des Universalen in Verbindung zu bringen. Was geht nun in meinem Innern vor, wenn ich eine Wahrheit entdecke, d. h., wenn sich mir plötzlich der verbindende Bezug zwischen bisher getrennten intellektuellen Elementen offenbart? Ich fühle genau, dass ich jene neue Wahrheit nicht selbst aus altem Stoffe geschaffen habe, ich habe sie überhaupt nicht geschaffen, ich habe sie empfangen, sie ist in einem Augenblick innerer Gelöstheit in mein Bewusstsein getreten. Woher kam sie? Aus einer Quelle in meinem Innern, aus der Quelle aller organischen und geistigen Erscheinungen aus denen ich zusammengesetzt bin, aus dem Prinzip, von dem ich eine individuelle Verkörperung bin, aus dem Prinzip, das die Welt erschafft, wie es mich erschafft.
Das will sagen, dass die von mir erkannte Wahrheit von „irgendetwas“ Universalem herkam. Aus dem Universalen stammend, hat meine Wahrheit in meinem individuellen Bewusstsein eine Form, eine Begrenzung angenommen. Sie hat sich in meinem geistigen Bewusstsein „formiert“ in Übereinstimmung mit meiner besonderen Anlage, mit dem mir eigenen Denkstil. Mit dieser Form hat die von mir entdeckte Wahrheit die Möglichkeit gewonnen, konzipiert und formuliert zu werden. Doch ist dieser Aspekt, der ein Ausdruck der ursprünglichen Wirklichkeit und daher gültig ist, nicht der einzige, den sie, gewonnen hat, denn sie hat auch jenen andern Aspekt, der nicht ein Ausdruck der Wirklichkeit und daher wertlos ist, miterworben. Die von mir formulierte Wahrheit ist, insoweit sie die Wirklichkeit zum Ausdruck bringt, universaler Art. Sie ist hingegen individueller Art, insoweit sie diese Wirklichkeit nicht zum Ausdruck bringt und daher auch keine Gültigkeit besitzt.
Anders ausgedrückt könnte man sagen: Was an der Wahrheit, die ich formuliere, Gültigkeit hat und der Beachtung wert ist, stammt nicht von mir als einem von andern sich unterscheidenden Individuum her, hat also sozusagen nichts mit meiner privaten Person zu tun. Sobald ich das einmal verstanden habe, interessiere ich mich nicht länger für das individuelle Gehirn, in dem die eine oder andere Wahrheit Gestalt gewonnen hat, denn dieses individuelle Gehirn ist ja nur der Empfänger, der eine bestimmte Botschaft aufgenommen hat.
Wenn auch zwischen der Ausdrucksform von Gedanken und der persönlichen Eigenart des Menschen, der ihnen Ausdruck verleiht, eine greifbare Beziehung besteht, so besteht doch keinerlei Beziehung zwischen der persönlichen Eigenart und dem Wahrheitsgehalt der Gedanken, d. h. dem, was die Gedanken an Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. So stammt wohl die formale Seite meines Buches von mir, doch ist die über allen Formen stehende Wahrheit, die in dem Wortnetz eingefangen ist und die vielleicht in Ihnen, je nach Ihrer persönlichen Anlage, bisher noch unentwickelte Gedanken erwecken wird, nicht von mir noch irgendeinem Einzelmenschen, sondern kommt ans dem Universalen. Der Anspruch auf die Urheberschaft irgendwelcher Gedanken ist abwegig. Er entsteht aus der ich-bezogenen Fiktion von Göttlichkeit, die — auf dem Grund unseres Seelenlebens verborgen —- uns selbst zur Ersten Ursache des Universums machen will. In Wirklichkeit ist das Unividuum niemals schöpferisch.
In Wirklichkeit ist das Unividuum niemals schöpferisch. Wenn der Mensch je schöpferisch ist, dann in universaler, anonymer Form, als Gestaltwerdung des Prinzips. In Zeitaltern, in denen echte Weisheit vorherrschte, dachten Künstler, Weise oder Denker nicht daran, den Werken, welche durch sie hindurch entstanden waren, ihren Namen aufzuprägen.
Quelleinhinweis“Die hohe Lehre“ Auszug
Wahrheit
Wahrheit kann weder erklärt noch beschrieben werden. Wahrheit ist das “ Was -Ist“ und das Annehmen dieser Tatsache. Jedes Wort über Wahrheit kann nur ein Hinweis auf sie sein. Das Verstehen der Wahrheit kann nicht erworben werden.
Es kann nur geschehen.
Wenn es geschieht, kann es angenommen (akzeptiert) werden, wenn der Verstand frei von einem „ICH“ und das Herz voller Liebe ist.